Geschichten einer Kapitänstochter

 Mein Vater war Kapitän. Das machte mich bei Nachbarskindern beliebt. Was war schon Pipi Langstrumpf im Takatuka Land,  was Jim Knopf und die Wilde 13.  Ich konnte von Eisbären erzählen, die ich auf weißblauen Gletschern des Nordmeeres beobachtet hatte, von Riesenschildkröten und Tümmlern im Mittelmeer  und von gewaltigen Stürmen, die mich fast das Leben kosteten. Vati hatte das Kommando auf einem Stückgutfrachter und  ich durfte mit ihm auf der  Brücke stehen.  Mutti auch. Manchmal klapperten wir  Monate,  manchmal nur ein paar Wochen die Häfen zwischen Murmansk und Haifa, zwischen Rotterdam und Algier ab.  Leningrad, Domjö, Bergen, Londonderry, Hull, Santander, Famagusta. Die Namen kribbelten mir wie  Brausepulver  auf der  Zunge.

Ich genoss die Bewunderung  der Spielgefährten und ließ in meinen  Geschichten aus tristen Hafengebäuden und Himmel hohen Kränen ein buntes Kinderparadies  entstehen, machte die hartgesottenen   Festmacher und Dockarbeiter zu schillernden Artisten. Ich liebte die verräucherten Hafenkneipen.  Meine Eltern schleppten mich hin und wieder dorthin, weil sie mich nicht unbedingt in der Obhut von Matrosen an Bord lassen wollten. Unter den Tischen rumrutschen und den Männern ins Bein kniepen, ihre Gläser vertauschen, wenn sie gerade nicht guckten, oder auf dem Bartresen thronend mir Spannendes erzählen lassen. Am liebsten von den Leuten und Schiffen auf den Schwarzweiß- Fotos an der Wand.  Von dem Koch, der mit großer Bratpfanne an Deck stand und ungläubig auf den Fliegenden Fisch starrte, der darein gesegelt war. Von dem Maat, der klitschnass und lässig die Hände in den Hosentaschen neben einem Elefanten in die Kamera grinste. Der Dickhäuter hatte ihn am Ende der Überfahrt von Tanganjika nach Hamburg bei der Fütterung mit seinem langen Rüssel gepackt und über Bord in die Elbe geworfen. In der Kneipe wurde ich verwöhnt. Die feisten Barfrauen mit ihren falschen Wimpern und  die kauzigen Seebären  steckten mir Süßigkeiten zu und manchmal durfte ich am Bier nippen. Meine Mutter sagt, bevor ich in die Schule ging,  konnte ich  mich in vier Sprachen unterhalten: deutsch, englisch, schwedisch und platt. Letzteres  wurden auf unserer MS „Torgu“  gesprochen.

Lagen wir länger als einen Tag fest, fuhren Mutti und ich in die Stadt. Kirchen und Museen waren für mich das Größte, wahrscheinlich weil es solche imposanten Bauwerke im trüben Nachkriegs-Kiel nicht gab. Dem Kind zuliebe hakte die genervte Mutter eines nach dem anderen ab. Am meisten faszinierten mich Gemälde mit Jesus beim Abendmahl. Nicht weil ich frömmelte. Mich wunderte, dass wir diesem bärtigen Burschen noch nie in einer Hafenkneipe begegnet waren. Vati konnte uns auf den Landgängen nie begleiten.  Er musste das Löschen und Laden  der Fracht überwachen, mittels Gewicht der Güter einen exakten Lageplan im Bauch des Schiffes erstellen und aufpassen, dass jedes Teil an die richtige Stelle kam. Sonst kippt die Schose und das Schiff, erklärte er mir.

Mein erster Kinderausweis wurde 1955 ausgestellt. Das war kurz nach meinem ersten Geburtstag. Ein paar Jahre später waren alle  sechs Seiten mit Stempeln übersät. Heute sind im Kinderzimmer  ferne Gestade nur einen Mausklick entfernt. Webcams hängen am Venice Beach und in den Pubs von Sydney. Damals  besaß   nur eine Familie in meiner Straße einen Schwarzweiß Fernseher, wir das einzige Telefon  und bei einer Bahnfahrt von Kiel nach Kalifornien  gebärdeten sich meine Spielgefährten so aufregt als reisten sie nach Timbuktu. Für sie  war dieser Strand an der Ostsee die große weite Welt. Wir bastelten  Bootchen aus Treibholz, Seetang und Muscheln und schoben sie über das Meer. Die anderen träumten dabei von der Ferne. Ich spielte am liebsten Sturm, klatschte mit beiden Händen auf das Wasser bis es ordentlich spritzte. Das war der Auftakt   zu einer meiner gruseligsten, aber wahren  Geschichten.

Wir fahren  über die Ostsee. Es ist Winter und ein Orkan tobt über das Meer. Riesige Wellen krachen gischtschäumend über unser  Schiff. An Deck erstarren sie zu Eis. Man könnte Schlittschuh fahren, wäre die fürchterliche Schaukelei  nicht. Bald hängen fette Eiszapfen von Aufbauten, Tauen und Tampen. Das Schiff sieht aus wie der  Kristallpalast in Peterchens Mondfahrt. Mast und Bäume brechen wie Strohhalme  unter der eisigen Last. Um ein Haar saufen wir ab. Gerade eben noch schafft es Vati uns in ruhigere Gewässer im Schutz der Schären zu manövrieren. Schwedische Zeitungen berichten später von 180 Tonnen Übergewicht. Das übertrifft die Vorstellungskraft meiner Freunde. Aber  das Schlingern im Sturm. Schlimmer als Achterbahn fahren, sage ich und zeige ihnen  wie man  dabei ohne Festhalten auf dem Boden bleibt. Vati hatte mir beigebracht, wie das funktioniert.  Und so  stehen wir am Strand von Kalifornien und üben Balance halten in imaginären Mörderwellen:  Das Gesicht grimmig zusammengekniffen,  die Füße schulterbreit auseinander im Sand vergraben und in den Knien durchgesackt schwanken wir  nach vorn und hinten, nach rechts und links, um den Naturgewalten zu trotzen. Seefahrt life eben.

Eine Geschichte wollten die Nachbarskinder immer wieder hören. Sie kannten  sie längst auswendig und ich verlangte Bezahlung dafür. Einer rannte dann  los und zog ein dickes rundes Kaugummi aus dem Automaten. Anschließend  verkrochen wir uns in unsere Höhle am Haus unter dichten Holunderbüschen. Dort teilte ich die klebrigrote Kugel mit den Fingernägeln. Ganz gerecht. Das größte Stück für mich. Mein Erlebnis handelte vom Schwarzen Mann. Ich war  die Einzige, die diesen Kerl, mit dem  Mütter gern ihren unartigen Kindern  drohten, leibhaftig gesehen hatte. Ich sehe mich noch heute im Oberbett in unserer  Kammer liegen. Mein Hals ist so dick, dass ich nicht schlucken kann und ich schwitze aus allen Poren. Plötzlich ein  kohlrabenschwarzes Gesicht mit funkelnden weißen Augen draußen vor dem Bullei. An dieser Stelle warf ich gerne erzieherisch ein, dass nur Landratten Kajüte und Bullauge sagen, an Bord sei das verpönt. Stumm Kaugummi kauend nickten dann alle wissend.  Dieses Gesicht jedenfalls erschreckt mich dermaßen, dass mir die Luft wegbleibt. Demonstrativ fasste ich mir in diesem Moment an den Hals. Die Zuhörer auch. Dann geht die Tür auf und das schwarze Gesicht guckt herein.  Ich schreie  wie am Spieß. Man konnte es wohl in der ganzen Straße hören. Den Nachbarskinder blieb wie immer an dieser Stelle die Spucke weg. Der Mann packt mich am Arm und ich wehre mich mit allen Kräften. Dann spielte ich  in der Höhle die Coole.  Tja, Phantasie muss der Mensch haben. Ich bilde mir ganz fest ein er sei ein zu groß geratener Sarotti Mohr und beiße zu. Und der schwarze Mann verzieht sein Gesicht und lacht und seine schneeweißen Zähne reichen  bis zu den Ohrläppchen. Am nächsten Tag schenkt er mir eine Riesenstange Toblerone. Da ist er mein bester Freund.

Unser Schiff  lag damals  im Londoner Hafen. Der Kenianer arbeitete dort als Notarzt und sollte mich untersuchen. Bis dahin hatte ich noch nie einen schwarzhäutigen Menschen gesehen. Ich kannte Sarottis Schokomänner,  Negerküsse und Mohrenköpfe und die schmeckten alle süß. Als wir zwei Tage danach ablegten, weinte ich bitterlich um den Verlust meines neuen Freundes. Das verschwieg ich meinen Spielgefährten. Gestandene Seemänner heulen nicht.  Jahre später  erzählte mir die Mutter eines Nachbarskindes, dass sie ihren Sohn mit dem Schwarzen Mann nicht mehr einschüchtern konnte. Schick mich ruhig hin, hatte Thomas trotzig erwidert, er macht gesund und verschenkt leckere Schokolade, die es bei uns nicht gibt.

Wenn ich jetzt Geschichten von Seemannskindern lese, schwingt immer eine Portion Traurigkeit,  von Fernweh und  Sehnsucht mit. Auch Sehnsucht  nach dem Vater, der die Sieben Weltmeere befuhr  und nur selten nach Hause kam. Dieses Gefühl von Verlassen sein kannte ich nicht. Weil ich oft mitfahren durfte und weil das Leben daheim auch ohne Vati  wunderbar funktionierte. Meine Mutter war wohl ganz froh, dass ihr nicht ständig jemand in meine Erziehung oder überhaupt in ihr Leben reinredete. Sie liebte das Theater, Vati nicht. Mit meiner großen Schwester ging sie viel in die Oper. Vati  wurde richtig eifersüchtig, wenn die beiden auf seinem Landgang zu ausschweifend von einem  Tenor vorschwärmten. Er wiederum war wohl auch kein Kind von Traurigkeit. Ein echter Seemann eben. War er zuhause   hörte ich manchmal abends durch die Ofenklappe meine Eltern streiten. Oft ging es ums Geld. Einmal gab es richtigen Zoff.  Meine Mutter hatte in seiner Hosentasche einen Strumpfhalter gefunden und mein Vater versuchte ihr weiszumachen, er hätte das Corpus delicti in einem Shop als Talisman erworben. Die Story gab sie gern mit größtem Vergnügen zum Besten. Mein Vater verstarb vor 30 Jahren. Meine Mutter wurde 90 und reiste bis kurz vor ihrem Tod in der Welt herum. Gern auf Frachtern, die nach Südamerika oder in die Karibik fahren. Soweit sind wir in meiner Kindheit nicht gekommen.

Eines hat meine Eltern, als wir in meiner Jugend in Kiel etwas zur Ruhe kamen nie verlassen: Das Reisefieber. In fast allen Schulferien waren wir unterwegs: Mit dem Flieger nach Mallorca, als Dr. Tigges die ersten Charterflüge anbot, mit dem Camper an die jugoslawische Küste, wo meine Lieblingsfilme mit Winnetou und Old Schatterhand gedreht wurden, mit dem Auto nach Südspanien, wohin Scharen von Hippies dem kitschig kultigen Roman „Die Kinder von Torremolinos“ folgten. Das schönste dabei war die Planung. Abende lang hingen wir über Landkarten auf dem Wohnzimmerteppich und studierten  Reiseführer.

Rückblickend bin ich meinem Vater aus vollem Herzen dankbar,  dass er in meiner Kindheit nur auf Schiffen anheuerte, wo seine kleine Familie mitreisen durfte. Ich hatte das große Glück von klein auf  hautnah zu lernen, dass es Menschen gibt, die anders aussehen,  anders denken und anders reagieren als wir. Erfahrungen, die mir im späteren Leben  Verständnis für fremde Völker vermittelten.  Jetzt als Reisejournalistin und Autorin  beschäftige ich mich am liebsten mit Gepflogenheiten anderer Kulturen. Warum fühlen sich Frauen hinter dem Schleier wohl, warum lächeln Thais immer, warum verlieren Chinesen schnell ihr Gesicht, warum kaufen Japaner,  wenn sie auf Reisen sind, ganze Boutiquen leer. Und im Urlaub? Mache ich so gut wie nie. Aber das glaubt mir natürlich keiner, wenn ich braungebrannt nach Hause komme. Reisejournalist ist ein wunderbarer  Beruf. Ein Riesendank  meinen Eltern, dass sie mir das Fundament  dazu in die Wiege legten.