Fünf Stunden geradeaus übers Meer fliegen und im gleichen Land landen. Das geht nur in Chile, zu dem die Osterinsel gehört. Die Rapa Nui indes, Bewohner des Fetzens Erde im Pazifischen Ozean wollen am liebsten mit Chilenen nichts zu tun haben. Verständlich, wenn man ihre leidensvolle Geschichte kennt. Seit Kevin Costners Film „Rapa Nui“ 1994 in den Kinos dieser Welt lief, hat die Insel mit den monumentalen Steinskulpturen touristisches Interesse geweckt.
Bei Google Earth erkennt man es am besten: Ein Dreieck im weiten Meer, knapp 164 Quadratkilometer groß, an jeder Ecke ein Vulkan, fast menschenleer bis auf den einzigen Ort Hanga Roa mit 3300 Einwohnern, einer Hand voll Streusiedlungen und einer Runway, die Amerikaner als Notlandebahn für ihre Space Shuttle anlegten. Der kleine Flughafen ist Familientreff. Mit Blumenketten werden lang vermisste Mitglieder unter Freudentränen begrüßt, andere mit Muschelketten und Abschiedstränen auf die Reise geschickt. Polynesische Rituale, wie man sie von Tahiti kennt. Aus dieser Richtung, 4250 Kilometer entfernt, soll die Osterinsel vor etwa 800 Jahren kolonisiert worden sein. Vielleicht auch 700 Jahre früher. Genetische Untersuchungen bewiesen zumindest die Herkunft der Bevölkerung aus dem polynesischen Raum. Was die erste Frage aufwirft. War es Zufall oder navigatorische Meisterleistung das einsame Eiland zu finden? Polynesier hatten keine Schrift. Seemännische Erfahrungen wurden mündlich überliefert.
„Die Osterinsel “, sagt mein Guide Keke, „ist Nabel der Welt“. Te pito o te henua haben seine Vorfahren sie genannt. Der holländische Seefahrer Jakob Roggeveen, Ostern 1722 gelandet, taufte sie um. Der Nabel leuchtet grün. Grasland und ein paar Eukalyptushaine. Warum die fruchtbare Insel zum Ödland verkümmerte, weiß keiner so genau. Nachgewiesen wurde eine radikale Entwaldung im 13. Jahrhundert. Die Wiesenlandschaft wölbt sich über flache Vulkankegel und reißt am steinigen Küstensaum ab. Im Meer stehen Pferde und saufen. Eine Mutation, die mit Salzwasser klarkommt? Keke schüttelt die hüftlangen Rasta Locken und biegt seinen muskulösen Körper vor Lachen. So blöde Fragen stellen nur Touristen. Süßwasserquellen sind es, die sie aufgespürt haben. Pferde gibt es auf Rapa Nui mehr als Menschen. 6000 sollen es sein. Halbwild, die Insel ohne Zäune, stehen sie in Wiesen, Kratern und Gemüsegärten, traben in Trüppchen am Straßenrand entlang oder grasen in aller Seelenruhe zwischen Petroglyphen und Moais und schuppern ihr Hinterteil daran. Umwelt- und Kulturschützer würde die Pferde am liebsten in Ställe sperren. Für Rapa Nui sind sie Symbole von Status und Freiheit. Bis vor 43 Jahren stand die Insel unter chilenischem Kriegsrecht. Bis dahin besaßen Rapa Nui keine chilenische Staatsbürgerschaft und waren in einem mit Stacheldraht umzäunten Kral gefangen. Ihr Nabel der Welt wurde ab 1895 als private Schaf- und Rinderfarm betrieben. Nicht weiter verwunderlich also, dass sie mit Chilenen nicht auf Freundschaftsfüßen stehen. Auch Thor Heyerdahl, der in den 50er Jahren die Osterinsel mit ihren Steinskulpturen weltweit bekannt machte, wird nicht unbedingt geschätzt. Er publizierte zwar viel über die mysteriösen Moais, aber kaum etwas über das tragische Los der Eingeborenen.
Bei meiner ersten Reise vor zwei Jahren wurden wir im Hotel Explora in lupenreinem Deutsch begrüßt. Die junge Frau stellte sich als Adrienne vor und erzählte später freimütig, sie sei das Produkt einer deutsch-polynesischen Liebe. Sie war aus Deutschland auf die Osterinsel gereist, um ihren Vater und dessen Familie kennen zu lernen. Sofort in den Schoß der Sippe aufgenommen, besitzt sie nun als einziges Kind des Ex-Lovers ein Grundstück auf der Osterinsel. Ohne notarielle Beglaubigung wie sie sagte, aber laut traditioneller Gepflogenheit ist sie als Eigentümerin unangreifbar. Dunkle Augen und die dicke Haarmähne hat sie von ihrem Vater geerbt. Ambition und Disziplin, dank derer sie sich ohne lange Ausbildung den Platz als Rezeptionistin des Luxushotels erkämpfte, wohl weniger. Rapa Nui seien verspielt und unzuverlässig, klagte Adrienne, die Männer saufen und werden dann oft gewalttätig gegenüber ihren Frauen. Sie wusste von mehreren Selbsthilfegruppen.
Guide Keke scheint eher dem Kiffen zu frönen. Seine Augen glitzern rot als wir uns auf den Marsch über einen alten Moai Transportpfad nach Ranu Raraku machen. Aus dem Steinbruch am Kaldera Hang stammen die Steinriesen. Der erste liegt einige Kilometer entfernt davon am Wegesrand auf der Nase. Etwa zehn Meter lang und 80 Tonnen schwer hat er sein Ziel im 17. oder 18.Jahrhundert nicht erreicht. Aber wie kam er überhaupt hierher? Und wie wurden all die anderen an Ort und Stelle gebracht und aufgerichtet? „ Mit Manna bei Mondlicht“, sagt Keke in vollem Ernst und meint damit die spirituelle Kraft, mit der sich so ein Götzenbild eigenständig auf den Weg machte und sich an der Küste auf einen Ahu schwang. In der steinernen Plattform wurden Knochen der Ahnen verborgen. Moai gelten als deren Wächter. Wissenschaftler spekulieren bis heute darüber, welche Technik die Eingeborenen in Wirklichkeit anwendeten. Leider hat Roggeveen bzw. sein deutscher Kommandant Carl Friedrich Behrens nicht darüber berichtet. Bei der Landung von James Cook 1774 war die Moai Kultur bereits im Untergang, viele Skulpturen umgestürzt.
Vom Laisser- faire der Insulaner spricht Hanga Roa, das sich just an der Stelle entpuppte, wo sie früher hinterm Zaun dahinvegetierten. Jetzt ein charmantes Südseedorf mit bunten Holzhäuser und blühenden Gärten, durchflutet von schwül warmer Pazifikbrise, hin und wieder von tropischen Schauern begossen. Wenn nicht gerade ein Pickup durch das halbe Dutzend Teerstraßen röhrt, ist es still. Das ändert sich nur am Wochenende, wenn das Jungvolk auf die Piste geht.
Wann die Rapa Nui von ihrer Ahnenverehrung abließen und sich dem Vogelmannkult widmeten bleibt ebenfalls Mysterium. Ziemlich sicher ist, dass lange Zeit Chaos und Anarchie herrschte und die Einwohnerzahl drastisch schrumpfte. Wir stehen auf dem Ranu Kao und blicken vom Kraterrand ein paar hundert Meter in die Tiefe. Auf der einen Seite in einen kreisrunden See, auf der anderen ins Meer, dass schäumend an drei Felsen leckt. Sie sind Brutplätze der Rußseeschwalbe. Einst stürzten sich im Frühjahr junge Männer die Klippe hinab, schwammen zum Motu Iti, suchten ein unbeschädigtes Ei dieser Vögel und versuchten es heil zurückzubringen. Der Sieger wurde für ein Jahr zum Vogelmann erklärt und hatte die Macht über den Nabel der Welt inne. Sein Clan genoss währenddessen höchstes Ansehen. In Costners Film bekam er zudem die hübschste Maid.
Mutproben unter jungen Polynesiern haben immer noch mit Sippenehre, aber noch mehr mit Vergnügen zu tun. Die gefährlichste heißt Haka Pei und findet während des großen Inselfestes Tapati Anfang Februar statt. Rücklings auf einem Bananenstamm liegend rutschen die nackten Teilnehmer den Hang des Maunga Orito hinunter. Das Gefälle des 220 m hohen Hügels sorgt für Spitzengeschwindigkeiten von 80 Stundenkilometer. Ob der Gewinner allerdings die Inselkönigin, die während der Festivitäten gewählt wird, beglücken darf bzw. nach der Tortur noch kann, bleibt ein weiteres Mysterium.
Informationen: www.sernatur.cl , www.osterinsel.net , www.museorapanui.cl , www.osterinsel-freunde.de , www.explora.com
Fotos: www.spierenburg.de