Reisende in China haben sie häufig vor Augen: Berge mit unglaublich steilen Hängen, mit bizarren Kiefern, die aus dem Fels wachsen, und mit einem Wolkenmeer darunter. Es verleiht der Szenerie etwas Märchenhaftes. Keine Kollektion von Rollbildern wie sie in Hotels, Lokalen und Andenkenläden obligatorisch sind, ohne eine Tusche Zeichnung dieses magischen Gebirges. Nur die wenigsten wissen, dass es sich dabei nicht um Sagenwelt, sondern um die Abbildung purer Realität handelt. Es sind die Gipfel von Huangshan, die an manchen Tagen auf Wolken zu schwimmen scheinen. Seit Jahrtausenden haben sie die Phantasie chinesischer Maler, Schriftsteller und Poeten beflügelt.
Etwa 500 Kilometer südwestlich von Shanghai in der Provinz Anhui türmt sich das Gebirge mit seinen 77 Gipfeln mit Höhen zwischen 1321 und 1867 Metern aus der Ebene. Vor 1200 Jahren bekam es seinen Namen. Der Tang-Kaiser Huanzong taufte es im Jahre 747 in Anlehnung an die Legende um den Gelben Kaiser: Gelbes Gebirge. „Wer Huangshan gesehen hat“ sagt ein chinesischer Spruch , „wird kein Bedauern mehr empfinden andere Berge verpasst zu haben“.Also, nichts wie hin.
Wir nehmen den Zug, dessen Betten im First-class Sleeper zwar bequem sind, aber die Waggons in dieser eiskalten Novembernacht nicht beheizt. Fröhlich der Empfang auf dem kleinen Bahnhof. Ein Wiener Walzer tönt aus den Lautsprechern, versetzt uns und die einheimischen Passagiere in ausgelassene Stimmung. Der dreiviertel Takt sollte auf diesem Ausflug die einzige Erinnerung an die Heimat bleiben. Weit und breit kein westliches Gesicht, niemand der englisch spricht, kein Schild, dass wir lesen können. Und Berge sind auch keine zu sehen . Dafür jede Menge altersschwacher Busse auf dem Bahnhofsvorplatz. Welcher geht wohl nach Huangshan? Mir fällt die Postkarte ein, die ich vor der Abfahrt gekauft hatte. Ich zeige das Bild mit den Gelben Bergen einem Chauffeur. Er kapiert und lotst uns vergnügt zum richtigen Vehikel. Minutenlange Diskussion mit dem Fahrer. Dann lächeln beide und nicken einträchtig. Wir steigen ein.
Zwei Stunden lang zieht sattgrüne Landschaft am Fenster vorbei. Hübsche Dörflein mit weiß gekalkten Häusern, Fenster und Türen mit gemalten Bordüren umrandet. Orangefarbene Maiskolben hängen von den Ziegeldächern. Darunter hocken alte Männer auf Bänken in der Sonne, wiegen auf dem Schoß ihre Enkel in den Schlaf. Frauen brutzeln auf kleinen Grills. Unvermittelt steigt das Gelände an. Der Bus ächzt und röhrt, als würde die nächste Kurve seine letzte sein. Wir halten an einem charmanten Hotelkomplex. Eine naives Ölgemälde zeigt dampfende Fontänen. Wir konstatieren: heiße Quellen hier. Endstation Seilbahn. Am Schalter hängt ein großer Plan des Gebirges. Wege und Wipfel sind darauf detailreich verzeichnet. Die Zeit , die man für den Aufstieg benötigt, fehlt. Noch vier Stunden bis Sonnenuntergang. Da lassen wir uns lieber mit der Kabinenbahn hochliften. Plakate zeigen Unterkünfte zwischen den Gipfeln. Auf dem Eintrittsticket für den Nationalpark finden wir ein paar Fakten: 154 Quadratkilometer misst die Fläche der Gelben Berge. Sie gelten als einer der zehn schönsten „Scenic Spots“ in China und wurden 1990 von der UNESCO auf die Liste der „World´s Legacies of Nature“ gesetzt. Komisch eigentlich, in der westlichen Welt sind sie nahezu unbekannt. Bis zum Ende der Tour werden wir keine Langnasen sehen. Die Chinesen behalten ihr Juwel für sich.
Acht Minuten später liegen knapp drei Kilometer Seil hinter uns, haben wir 773 Höhenmeter überbrückt. Das steht auf der Fahrkarte. Zu schnell, um die Namen der vorbeirasenden Kuppen auf der Zunge zergehen zu lassen, geschweige denn in ihnen die Euphemismen zu erkennen: Goldener Hahn an der Himmelpforte, Himmlischer Hauptgipfel, faszinierender Pavillon, Der Unsterbliche weist den Weg , Feengipfel. Auf dem Grad der Weißen Gans müssen wir aussteigen. Was nun ? Zur Linken führen Stufen wieder zurück ins Wolkental. Sieben Kilometer lang, wie wir später erfahren. Nach rechts führt ein gemauerter Pfad ins Nichts. Dichter Nebel wabert. Er ist so feucht, dass wir die Kamera nicht auspacken mögen. Kein Mensch zu sehen, nicht einmal die Souvenirstände sind besetzt. Wir tappen in den grauen Dunst, folgen dem Weg, der sich hoch und runter durch Stille und Einsamkeit schlängelt. Eine Abzweigung mit Hinweisschild. „Zur Brücke der Unsterblichen“ steht auf englisch darauf und „Schildkrötengipfel“. Aber auch „Beihai Guesthouse“ und „Xihai Hotel“. Das ist unsere Richtung.
Als wir eine Stunde später im Xihai landen, haben wir außer ein paar Riesenkiefern am Wegesrand nichts gesehen. Der Rezeptionist spricht ein paar Brocken englisch. „Morning sun“, sagt er und , „cool terrace“ , zeigt auf seiner Uhr die sechs und übergibt uns den Zimmerschlüssel. Am Abend ist im Hotel die Hölle los. Das Restaurant mit seinen zwei Dutzend großen runden Tischen ist bis auf den letzten Platz mit lärmenden Chinesen besetzt. Wartende in der Bar vergnügen sich lauthals bei Karaoke. Cognac wird wasserglasweise gekippt. Kampai ! Wir sind die Exoten. Ein Grund mehr zum Feiern. Jeder möchte mit uns anstoßen. Kampai! Und noch eine Runde. Kampai ! Schlag neun Uhr ist der Spuk beendet. Alle verschwinden in ihren Zimmern.
Die „Kühle Terrasse“ im Morgengrauen heißt nicht nur so. Es herrscht klirrende Kälte, aber glasklare Sicht . Einige Sterne funkeln noch. Inseln gleich heben sich dunkle Buckel gegen den purpurfarbenen Himmel ab. Die ersten Sonnenstrahlen. Das gleißende Licht erhellt die Gipfel von unten. Einzelheiten treten hervor, skurrile Höcker mit Schirmchen drauf. Wie im Zeitraffer entrollen sich genau die Szenerien, die wir auf den Tuschzeichnungen gesehen hatten. Eine wahrhaftige Märchenwelt aus Stein, mit gigantischen Felsquadern, wie von Riesenhand aufgeschichtet. Dazwischen klaffen enge Schluchten, so atemberaubend tief, dass man den Grund nicht sehen kann. Die Schirmchen, die mich an die kleinen bunten Dinger erinnern, die bei uns Eisbecher verzieren, entpuppen sich als Kiefern. Diese Art wächst nur hier. Je steiler die Klippen, desto wunderlicher ihre Form. Einige stehen aufrecht, aber viele recken sich horizontal aus dem kargen Gestein, manche hängen kopfüber. An den wenigen Aussichtsplätzen drängen sich chinesische Reisegruppen. Keine Spur von asiatischer Zurückhaltung. Sie lachen und schnattern wie die Gänse vor lauter Naturbegeisterung. Jeder will vor dem Gebirgsspektakel fotografiert werden, lehnt sich dabei möglichst weit über das magere Geländer. Es bietet kaum Schutz vor dem 1000 Meter tiefen Felssturz.
Nach einem Frühstück mit schlappem Toast und einem Mokkalöffel voll Marmelade machen wir uns an den westlichen Abstieg. Lang und schwierig soll er sein, mit 15.000 Stufen. Ich gucke mir die Ausrüstung der einheimischen Wanderer an. So schlimm kann es nicht werden. Manche sehen aus , als wollten sie zur Arbeit gehen . Mit Aktenköfferchen in der Hand, Anzug und Schuhen mit Absatz. Die Damen auch gern höhere.
Der erste Abschnitt Richtung Fernsehturm ist tatsächlich leicht , sieht man von der Steigung ab. Kurze Verschnaufpause auf dem Grat , der Wind schneidet ins Gesicht. Dann wird die Oberschenkelmuskulatur gefordert. Die Treppe ist so steil, dass mir fast schwindelig wird . Wie eine Achterbahn schwingt sie nach unten und wieder hoch, nach rechts und links, an atemberaubenden Abgründen entlang und über nicht weniger steile Felshänge hinunter. An einigen Stellen wurden Tunnel in den Stein geschlagen. Sie sind eng . Wohlbeleibte dürften Schwierigkeiten haben, sich hindurch zu quetschen. Für die zarten Chinesen hingegen scheint es das wahre Vergnügen zu sein. Sie quietschen, jubeln und turnen wohlgelaunt über die „Dreihundert Meter Leiter zum Himmel“, über„die Gräte des Karpfens “ und den „Lotusblütengipfel“ hinauf , als ob sie auf dem Spielplatz wären. Nur wir stehen überwältigt und erschöpft auf der Plattform, denken an den Poeten Li Bai, der hier vor 1.200 Jahren Säulen sah , „die aufwärts streben, die lichtstrahlenden Rosen zu küssen, wie Lilien in einem Meer aus Gold“. So schöne Worte wären uns sicherlich nicht eingefallen. Wir sagen es ganz pragmatisch: Reisender, weilst du in der Gegend, versäume die Gelben Berge nicht.
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